NGO Paradise - Die Hilfsorganisationen und der Nahost-Konflikt

Deutschlandfunk Kultur - 2013 - 15 Min.

Deutsch:

Flug-Drachen selber basteln und steigen lassen. Das soll Kindern im Gazastreifen Ablenkung vom Alltag bringen – und ihnen ein Stück Selbstvertrauen geben. Diese Hilfsaktion ist eine von vielen in den Palästinensergebieten. Etwa 1000 Organisationen sind dort tätig. Ihre Arbeit ist aber nicht unumstritten.

Im Gazastreifen befindet sich der einzige Zugang der Palästinenser zum Meer. Darauf sind auch die diejenigen stolz, die den breiten Sandstrand noch nie gesehen haben.
Dabei ist der Strand von Gaza-Stadt oft menschenleer, genutzt nur am Wochenende und an Feiertagen. Touristen gibt es aufgrund der jahrelangen israelischen Blockade des Gazastreifens und der kaum durchlässigen Grenze zu Ägypten so gut wie keine.
Einige Anwohner sitzen im Sand, Kinder planschen und ein paar Sonderlinge tragen Surfbretter ins Wasser. Wellenreiten ist kein verbreiteter Sport in der Region. Außerdem gilt die Strömung vor dieser Küste als gefährlich. Dennoch gibt es seit sechs Jahren in Gaza eine kleine Surfer-Gemeinde: 20 junge Männer und Frauen gehören dazu, von denen die meisten als Rettungsschwimmer arbeiten. Von Hochsitzen, die notdürftig zusammengezimmert wirken, beobachten sie den Strand.
Von weitem wirkt Mohammed Abo Jayab fast jugendlich – tarnfarbene Bermudashorts, weißes Fußball-Trikot einer arabischen Mannschaft. Aber der Haaransatz wird bereits lichter – sein Vollbart ergraut zusehends. Mohammed Abo Jayab gehört zu den ersten Wellenreitern in Gaza.
Mohamed Abo Jayab: „Seit meiner Kindheit surfe ich hier am Strand von Gaza – ursprünglich mit primitiven Mitteln, auf einfachen Holzbrettern. Aber seit sechs Jahren ist Surfen in Gaza etwas bekannter. Jetzt surfe ich auch im Team.“
Initiator dieser Entwicklung ist Dorian Paskowitz – ein Arzt aus den USA mit jüdischen Wurzeln. Im Jahr 2007 schlägt er die Zeitung auf und sieht darin junge Surfer auf alten Holzbrettern in Gaza.
Doc Paskovitz: „Ich schaue in die Los Angeles Times und sehe dort das Bild zweier arabischer Jugendlicher, Achmed und Mohammed, die auf einfachen Holzbrettern surfen. Das hat mir das Herz gebrochen. Da gibt es zwei Burschen, die wirklich surfen wollen, die aber nicht mal ein Surfbrett haben.“

Surfing For Peace – Solidarität mit den Surfern in Gaza

Dorian Paskowitz – leidenschaftlicher Surfer – startet spontan eine Spendenaktion. Er ist damals schon 86, aber bringt die 15 neuen Bretter trotzdem persönlich zum israelischen Grenzübergang Erez. Dort redete er so lange auf das Checkpoint-Personal ein, bis er die Bretter übergeben kann. Es ist ein zähes Ringen mit den Israelis – auch weil die Hamas kurz zuvor die Wahl im Gazastreifen gewonnen hat.
Aus dieser spontanen Geste entsteht die Initiative „Surfing For Peace“, die als Nichtregierungsorganisation operiert. Sie veranstaltet 2007 ihr erstes Benefiz-Konzert, um internationale Solidarität mit den Surfern in Gaza zu bekunden. Auch Frauen sollen eingebunden werden. Dazu entwerfen Modestudentinnen Surfkleidung für Mädchen, die dem islamischen Bekleidungskodex entspricht.
Wenig später startet der auf Hawaii lebende Surfer Matthew Olson ein weiteres Projekt mit dem Ziel, in Gaza einen Surf-Club aufzubauen. Als Sohn eines US-Diplomaten hat Olsen bereits einige Jahre in Gaza gelebt und als politischer Berater gearbeitet. Politik und Freiluftsport sind seine Hauptinteressen.
Matthew Olsen: „Im Jahre 2007 beschloss ich, beide Schwerpunkte zu kombinieren und, erlebnispädagogische Projekte an Orten durchzuführen, die gleichzeitig viel politisches Geschick erfordern. Denn, so habe ich gedacht, wenn ich es schaffe, einen Surf-Club in Gaza zu gründen, dann kann ich das überall auf der Welt tun.“
Aber als Olsen 2007 nach Gaza kommt und sich nach den von Paskovitz gespendeten Brettern erkundigt, stellt er fest, dass nur zwei der insgesamt 15 bei ihren Adressaten angekommen sind.
Der Rest war in der Garage von Mahfouz Kabariti. Der Präsident einer lokalen Nichtregierungsorganisation rechtfertigt das mit einem palästinensischen Gesetz. Danach muss jede ausländische Sachspende einer palästinensischen Dachorganisation ausgehändigt werden. Die Skepsis gegenüber ausländischen Hilfen geht noch weiter. Kabariti unterstellt dem Surfclub-Gründer Olsen in die eigene Tasche zu wirtschaften, weil kein richtiger Ort existiert, an dem sich die Surfer regelmäßig treffen.
Mahfouz Kabariti: „Matthew Olsen hat einen Surfclub in Gaza gegründet, der in Wirklichkeit nur auf dem Papier existiert. Tatsächlich gibt es hier keinen Surfclub und er selbst bereichert sich an den Spenden, die auf das Konto des Surfclubs eingehen.“
Ursprünglich wollte Matthew Olsen mit Mahfouz Kabariti zusammenarbeiten. Doch Kabariti verlangte von ihm, Zugriff auf die Konten seines Surfclubs zu bekommen, was die die Kooperation schnell beendete. So veranlasste Olsen vor fünf Jahren allein eine Lieferung von 23 weiteren Surfbrettern in den Gazastreifen. Zwei Jahre später – nach hartnäckigem Verhandeln und klugem Taktieren mit dem israelischen Grenzpersonal laden alle Bretter bei den Surfern in Gaza.
Der Waha Strand in Gaza. Tausende Kinder haben sich versammelt. Mit Bussen wurden sie aus den unterschiedlichsten Winkeln des hermetisch abgeriegelten Gazastreifens hierher gefahren. Der Wind weht recht stark und die Kinder lassen ihre bunten Flugdrachen behutsam in die Luft aufsteigen.
Hinter ihrem Treiben steckt ein Projekt des Hilfswerks der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten.
Deren Mitarbeiter denken ihre Projekte gerne groß und medienwirksam. Um auf die Lage der Menschen in Gaza aufmerksam zu machen, nutzen sie das Guinness Buch der Rekorde.
Einmal lassen sie Menschen mit vielen Basketbällen gleichzeitig am zerbombten Flughafen von Gaza dribbeln. Rekord. Dann entsteht das größte Bild mit Abdrücken farbiger Hände. Wieder Rekord. Oder palästinensische Kinder lassen die meisten Drachen gleichzeitig in die Luft steigen.
Kind: „Wenn wir die Drachen steigen lassen, fühlen wir uns, als ob wir selbst fliegen würden und als gäbe es keine Blockade des Gazastreifens. Wenn wir die Drachen steigen lassen, wissen wir, dass es Freiheit gibt.“
Nitin Sawhney und Roger Hill sind zwei junge Filmemacher, die sich vorgenommen haben, eine solche Aktion aufzuzeichnen.
„Flying Paper“ – fliegendes Papier – heißt ihre 70-minütige Dokumentation, in der die beiden Filmemacher zehn Wochen lang Kinder in Gaza begleiteten, die Flugdrachen gebaut haben.
Roger Hill: „Es gibt natürlich auch echtes Leben in Gaza, Liebe und Freundschaft, Humor und Schönheit. Das alles wird nicht in der gängigen Medienberichterstattung von hier gezeigt. Und das war eben unsere Absicht: Wir wollten zeigen, wie das Leben in Gaza wirklich ist.“

Am Vorabend des Drachenfestes wurden UN-Flaggen verbrannt

Am Vorabend des Drachenfestivals in Gaza, bei dem die selbstgebauten Drachen der Kinder in die Luft steigen sollten, kam es zu einem Übergriff durch zehn maskierte Männer. UN-Flaggen wurden abgebrannt. Eine Aktion, die Filmemacher Roger Hill nicht nachvollziehen kann.
Roger Hill: „Den Kindern verleiht das Drachenbauen ein Gefühl von Selbstvertrauen und Erfolg und lenkt sie von der harten Realität des Alltags ab. Für einen Moment können sie Freiheit fühlen.“
Seit die Hamas die Regierung stellt, hat sich die Lage der Menschen in Gaza noch weiter verschlechtert. Israel hat über den zehn Kilometer breiten Küstenstreifen eine strenge Blockade verhängt, um die radikal-islamische Hamas zu schwächen. Die Bewegungsfreiheit der Menschen ist stark eingeschränkt, der Handel erfolgt vorwiegend über die Schmugglertunnel. In der Folge bricht die Wirtschaft ein. Kleinindustrie und Landwirtschaft – ursprünglich starke Bereiche in Gaza – liegen am Boden.
Inzwischen ist einer der größten Arbeitgeber in Gaza das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge. Aber die Organisation ist umstritten, meint Ebaa Rezeq, eine junge Studentin aus Gaza-Stadt.
Ebba Rezeq: „Ich prangere die Arbeit der Vereinten Nationen an, weil sie den Status Quo in den Flüchtlingslagern von Gaza aufrechterhält. Ich dachte eigentlich immer, dass Organisationen wie die UN dazu geschaffen wurden das Leben solcher Leute zu verbessern, eine Lösung zu finden und sie nicht über 60 Jahre im gleichen Zustand zu halten.“
Ortswechsel. Von Gaza zur eigentlichen Hauptstadt der palästinensischen Nichtregierungsorganisationen: Ramallah – in der Westbank.
Das Zentrum und gleichzeitig der Verkehrsknotenpunkt der Stadt ist der Al-Manara-Platz, der von einer hohen Säule geziert wird, die von fünf Steinlöwen umgeben ist. Tagsüber pulsiert hier der Verkehr – Fußgänger und motorisierte Fahrzeuge verweben sich fast schon ineinander.
Anders als in Gaza, wo das palästinensische Elend offen zutage tritt, das wirtschaftliche Desaster, die Armut und Arbeitslosigkeit, die religiöse und politische Radikalisierung, wirkt Ramallah vergleichsweise sicher und entspannt.
Es gibt zahlreiche Cafés, in denen man Essen nach westlichen Standards bekommen kann. Im Straßenbild sind wesentlich mehr Frauen ohne Kopftuch als in Gaza zu sehen. Im Zentrum der Stadt, wie an ihren Rändern stehen prächtige Neubauten mit gepflegten Gärten, die ähnlich wie im zehn Kilometer entfernten Jerusalem auch aus weißen Steinen errichtet sind.
Aber wer auch nur 20 Minuten in irgendeine Richtung fährt, trifft auf die Mauer, Checkpoints oder israelische Siedlungen. Die negativen Folgen dieser Maßnahmen bekämpfen über 1000 Hilfsorganisationen, Stiftungen und Institutionen aus aller Welt. Von Human Rights Watch über Amnesty International bis hin zu Oxfam – arbeiten alle in Ramallah daran, den Palästinensern zu helfen.
Dort hat auch das Barenboim-Said-Projekt seinen Sitz. Gegründet haben es der palästinensische Intellektuelle Edward Said und der israelische Dirigent Daniel Barenboim.
Diego la Mar: „Die Barenboim Stiftung ist die einzige Schule hier in der Gegend, die einen westlich ausgerichteten Chor hat. Ich bin der Dirigent dieses Chors und noch ein paar weiterer Schulchöre.“
Sagt der spanische Musiklehrer Diego la Mar. Er sitzt in einem Café abseits der Hektik des Stadtzentrums. Für die Barenboim-Stiftung ist der Musiklehrer nach Ramallah übergesiedelt, um Kindern im Westjordanland Musikunterricht zu geben. Regelmäßig geben seine Schüler Konzerte für die Familien und andere Interessierte.

Hilfsinitiativen bewegen sich an tatsächlichen Nöten vorbei

Noch professioneller geht es beim West-Eastern Divan Orchestra zu, ein 1999 gegründetes Symphonieorchester, in dem die Schirmherren Edward Said und Daniel Barenboim junge Musiker aus arabischen Ländern, aus Israel und Andalusien zusammen bringen. Einmal im Jahr treffen sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Es soll eine weitere Möglichkeit des Austausches sein – und auch ein Symbol – kaum mehr. Wie die meisten Hilfsinitiativen bewege sich auch diese an den tatsächlichen Nöten und Bedürfnissen der Menschen vorbei, kritisiert Sabine Lang. Die Professorin an der University of Washington in Seattle beschäftigt sich seit langem mit der Arbeit von Hilfsdiensten.
Sabine Lang: „Grundsätzlich ist das Problem, dass zwischen den nördlichen Fördergebern und den südlichen Empfängern die eine Hand nicht weiß was die andere macht. Es gibt unzählige private und öffentliche Fördergeber in den USA und transnationale Geldgeber wie die EU, die natürlich alle Interesse daran haben, gute Projekte zumachen, aber auch bestimmte Räume für wirtschaftliche Aktivitäten zu eröffnen und Beziehungen herzustellen. Jede dieser nördlichen Institutionen hat ihre eignen Förderlogik, ihre eigenen Drei- beziehungsweise Vierjahres-Programme. Oft haben sie dabei große Mühe, tatsächlich das zu sehen, was vor Ort notwendig wäre.“
Viele NGO-Projekte verfolgen in Krisenregionen hehre Ziele und den Projekt-Entwicklern mangelt es selten an Kreativität. Trotzdem gelingt es ihnen selten nachhaltige Verbesserungen zu erreichen. Oft liegt es auch an der Prioritätensetzung. Es fehlt an Maßnahmen, die passgenau für das jeweilige Land entwickelt wurden. Professorin Sabine Lang fordert deshalb von den Hilfsorganisationen mehr Mut vom althergebrachten Vorgehen abzuweichen.
Sabine Lang: „Also die Logik ist meistens: Was haben wir? Was denken wir, was wichtig ist? Die Logik müsste aber andersrum verlaufen: Wie können wir Strukturen etablieren in Gaza, in der West-Bank und anderen Gebieten, die es bitter nötig haben, um zu eruieren, was für die Menschen tatsächlich am wichtigsten ist. Das lassen in der Regel nördliche Fördergeber nur schwer zu, denn sie müssten ja Geld investieren in etwas, von dem sie nicht genau vordefinieren könnten, was sie fördern. Und das ist für die meisten eine Black-Box, die natürlich auch Risiken birgt.“